Zur Frage der Abstraktion
in der indigenen Kunst

Bei der Beschreibung indigener australischer Kunst wird oft davon ausgegangen, dass es sich um abstrakte Kunst handele. Was bedeutet im Verständnis der westlichen Kunsthistorik abstrakte Kunst? Richard Gassen, ehemals Leiter des Wilhelm-Hack-Museums, des städtischen Kunstmuseums in Ludwigshafen definiert folgendermaßen:

"Was die abstrakten Künstler im Ganzen eint, gleich welcher Richtung ..., war ihre Abkehr von der Wiedergabe der dinghaften Wirklichkeit, der mimetischen Abbildung ... Abstrakte Bilder handeln somit vom Nicht-Sichtbaren, es sind innere Bilder, Visualisierungen innerer Wirklichkeiten, die sich der figürlichen, der gegenständlichen Darstellung entziehen." (1)

Bis hierhin könnte dies auch eine Beschreibung von Teilen der indigenen Kunst sein. Aber Richard Gassen fährt fort:

"An die Stelle von Geschichte und Geschichten tritt eine eher kunstimmanente Fragestellung nach Form und Farben, angestrebt wird eine 'reine' bzw. 'absolute' Kunst, die sich unabhängig von der vorgefundenen Realität entwickeln kann."

Die Verbindungen von Jukurrpa und Kunst lässt schnell erkennen, dass die Malerei von indigenen Australiern mit dem, was Abstraktion in der westlich-europäischen Kunsthistorik definiert, nichts gemein hat.

Die indigenen Künstler nutzen ihre Malerei, um ihr Weltbild, die Jukurrpa, und das, woraus es sich zusammensetzt, mit Hilfe von Geschichten zu beschreiben und zu vermitteln. Dabei kann es sich um Geschichten handeln, die ein Gesetz oder eine Regel des Zusammenlebens schildern, es kann um Liebe oder Tod gehen, um Medizin, Wasser, die Schöpfung, politische Ereignisse der Verfolgung oder andere wesentliche Dinge des Lebens. Es ist eine narrative Kunst.

Gloria Tamerre Petyarre, Ohne Titel, 1996, Acryl auf Leinwand, 117 x 176 cm, abgedruckt in: Aboriginal Art Galerie Bähr (Hg.): Das Verborgene im Sichtbaren. The Unseen in Scene, 2. Aufl., Speyer 2002, Ausst. Kat., S. 39Selbst Kunstwerke, die auf den ersten Blick abstrakt erscheinen mögen wie das 1996 gemalte Bild "Ohne Titel" von Gloria Tamerre Petyarre, sind von mythologischen Geschichten inspiriert, hier von Awelye, wichtigen religiösen Zeremonien der Frauen, die mit Körperbemalung einhergehen und mit der Geschichte der Dornenechse verbunden sind. Die Geschichte ist mit dem Land des Vaters der Künstlerin Atnangkere und Alhalkere verschmolzen.

Gloria Tamerre Petyarre malt auf einen in verschiedenen Rotstufen flammenden Grund mit sehr breitem Pinsel bewegte blaue Strukturen in unregelmäßigen Bögen, die von der rauhen und unebenen Textur des Eidechsenrückens inspiriert sind. Die Farben pulsieren, und das Bild glüht und ist mit Leben erfüllt. Die Künstlerin betitelt ihr Bild nicht, aber es wird deutlich, dass sie wesentliche Dinge vermittelt.

Gracie Morton Ngale, Arnekwety Country, 1999, Acryl auf Leinwand, 150,5 x 91,5 cm, abgedruckt in: Aboriginal Art Galerie Bähr (Hg.): Das Verborgene im Sichtbaren. The Unseen in Scene, 2. Aufl., Speyer 2002, Ausst. Kat., S. 30Ein anderes Beispiel ist "Arnwekety Country" der Künstlerin Gracie Morton Ngale von 1999, das in seiner malerischen Ausführung noch weiter reduziert ist als das Bild von Gloria Tamerre Petyarre. Abgesehen von farblichen Änderungen in den auf die Leinwand aufgebrachten Punkten, sind keine Strukturen mehr zu erkennen. Dennoch vermittelt das Bild die gleichen Inhalte wie Werke, die mit deutlichen Motiven oder Symbolen arbeiten.

Das Bild handelt von einer Stelle beim Arlperre-Felsloch und -Sumpf, der an den Fluss Sandover angrenzt. Früher brachte diese Gegend genügend wildwachsende Nahrung zum Überleben einiger Familienverbände hervor. Überflutungen durch den Fluss führten zu riesigen Flächen fruchtbarer Erde und erklären die weite Verbreitung der violetten Arnwekety (Wildpflaume), an der unmittelbar nach Regenfällen nahrhafte Beeren reifen. Diese Pflanze ist die meist verehrte in der Gegend von Arlperre, woraus sich die Arnwekety Altyerre (2) entwickelte, die wichtigste Zeremonie, die gleichermaßen von Frauen und Männern gefeiert wird.

Die Bildbeispiele zeigen, dass das, was in der Bildfindung vermeintlich abstrakt erscheint, immer Ausdruck eines narrativen Geschehens ist.

Anmerkungen

(1) Gassen, Richard W. (Hg.): Die neue Wirklichkeit: Abstraktion als Weltentwurf, Ludwigshafen 1994, Ausst. Kat., S. 52

(2) Altyerre ist in der Sprache des Volkes der Anmatyerre, zu dem Gloria Tamerre Petyarre und Gracie Morton Ngale gehören, der Begriff für Jukurrpa.