Der Einfluss des Christentums
auf die australische indigene Kunst

2007 gewann Shirley Purdie mit ihrem Bild "Leidensstationen Christi" als erste indigene Künstlerin den mit 15.000 australischen Dollar dotierten Blake Prize for Religious Art.

Bei der Durchsicht von Büchern zur indigenen Kunst stößt man auf eine nicht sehr hohe, aber doch nennenswerte Zahl von Bildern, die sich mit christlicher Thematik befassen.
Wie kommt es dazu, dass indigene Künstler Bilder christlichen Inhalts gestalten, obwohl eines der wesentlichen Kennzeichen indigener Kunst der narrative Bezug zum Land in seiner besonderen indigenen Bedeutung ist? Was ermöglicht indigenen Menschen, die in ihren Religionsauffassungen weder Sünde noch eine universelle Schuld kennen, sich mit dem Christentum einzulassen? Wie werden die christlichen Bezüge in den Bildern von den Künstlern verstanden? Gibt es dabei Unterschiede zwischen den Künstlern, die in den Großstädten, und denen, die auf dem Land leben? Der nachfolgende Artikel gibt darauf einige Hinweise und Antworten.

Die Entstehung der "Two Ways" des Glaubens

Seit der Landung Captain Cooks in Australien wurde angezweifelt, dass die indigenen Bewohner das Christentum überhaupt verstehen können. Der anglikanische Pfarrer Samuel Marsden meinte z. B. 1819: “Die Aborigines sind die zurückgebliebenste der menschlichen Rasse… Die Zeit ist noch nicht gekommen, damit sie den großen Segen der Zivilisation und das Wissen um das Christentum empfangen.”(1) Im 18. und noch 19. Jahrhundert unterstellten viele Missionare, dass die indigenen Bewohner Australiens unzivilisiert und vor allem unzivilisierbar seien.

Auch im 20. Jahrhundert war die Überzeugung verbreitet, dass indigene Australier nicht vom christlichen Glauben zu überzeugen seien, wenn die Anthropologen auch unterschiedliche Gründe nannten: Baldwin Spencer (1860-1929), Professor für Anthropologie an der University of Melbourne und für einige Wochen im Jahr 1911 Chief Protector of Aborigines im Nothern Territory, glaubte, dass das Christentum für die indigenen Australier destruktiv sei, weil sie es nicht verstehen könnten. (2)

Eine andere Auffassung unter Anthropologen besagte, dass die indigenen Australier eine vollständige und zufriedenstellende Religion besäßen, sodass keinerlei innere Notwendigkeit bestünde, christliche Glaubenssätze zu übernehmen. Aram Yengoyan, Anthropologe an der University of California, ging einen Schritt weiter und versuchte, am Beispiel der Pitjantjatjara zu belegen, dass eine religiöse Konversion unmöglich sei, weil deren Überzeugungen im antagonistischen Widerspruch zu den Glaubenssätzen des Christentums stünden. (3)

Lynne Hume, Professor an der School of History, Philosophy, Religion and Classics der University of Queensland, vertritt, dass die indigene Vorstellung vom Land, nämlich die untrennbare Verbindung bestimmter physischer Orte mit spiritueller Praxis, wo sich die menschliche Welt mit der der Schöpferahnen verbindet, d. h. die heiligen Stätten, an denen Zeremonien vollzogen wurden und werden, niemals von einer Kirche widergespiegelt werden könne. (4) Wobei zusätzlich zu argumentieren wäre, dass die indigene Auffassung vom Land als einem lebendigen Subjekt, das verletzt werden und leiden kann, für das man sorgen muss, gegen die christliche Lehre verstößt, es zu nutzen, zu bebauen, auszubeuten, kurz: es sich Untertan zu machen. Indigene Auffassungen kennen keinen Kampf zwischen Gut und Böse; die Schöpferahnen werden nicht allein mit dem Guten assoziiert, sie vereinen beides in sich, genauso wie Menschen. Die Sterblichkeit des Menschen ist nicht auf etwas wie die Ursünde zurückzuführen.

So gibt es eine ganze Reihe von grundlegenden Gegensätzen zwischen christlichen und indigenen religiösen Auffassungen, die eine Vermittlung beider unmöglich erscheinen lassen. Und dennoch ist es eine Tatsache, dass indigene Menschen von sich sagen, dass sie an einen christlichen Gott glauben. Wie ist es dazu gekommen?

Die Missionare der verschiedenen Religionen hatten eine durchaus unterschiedliche Vorgehensweise. Sie reichte von teilweiser Wahrung der Kulturen bis zu harscher Unterdrückung. (5) In ihren Anfängen waren die Missionierungen weitgehend erfolglos aus vielerlei Gründen. (6) Manche scheiterten schlicht an den ungewohnten und schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in der Wüste. Viele Missionen – bis 1928 gab es davon mehr als 100 (7) – wurden aufgegeben, weil die Gewalt der weißen Siedler gegenüber den indigenen Bewohnern kein Vertrauen in die Missionare entstehen ließ. Dort, wo die Missionare vor den Siedlern Kontakt mit den indigenen Bewohnern aufnehmen konnten, hatten sie es leichter, zumal sie Essensrationen und eine bescheidene medizinische Versorgung boten, die zumeist besser waren als auf den Farmen. Es dauerte einige Zeit, bis die Missionare von der Notwendigkeit überzeugt waren, die indigenen Sprachen zu lernen und sich mit den indigenen Kulturen auseinanderzusetzen, wobei die Absicht stets war – und dies ist das Wesentliche –, diese Kulturen durch eine christliche zu ersetzen.

Weil es sehr schwer war, die Ältesten eines Clans, d. h. die Wissenden, die in ihrer Religion und im Gesetz Erfahrenen von der Notwendigkeit der Glaubensänderung zu überzeugen, arbeiteten die Missionare vor allem mit Kindern, die sie von den Eltern separierten, damit deren Einfluss bzw. die Überlieferung indigenen Wissens gebrochen werden konnte.

Die relative Erfolglosigkeit beim Missionieren – in Ntaria (Hermannsburg) wurden seit der Gründung der dortigen Mission 1877 bis 1891, also in 14 Jahren nur 25 Arrernte, im wesentlichen junge Leute, getauft (8) – änderte sich grundlegend erst in den letzten Jahrzehnten. Die wesentliche Bedingung dafür war, dass mehr und mehr indigene Pfarrer ausgebildet wurden, die die örtlichen Kirchen übernahmen, und dass diese Pfarrer Unterstützung aus den Kommunen erfuhren.

An zwei Beispielen grundlegender indigener Vorstellungen, die von den Schöpferahnen und die vom Land, wird gezeigt, wie sie mit christlicher Perspektive versehen wurden.

In den späten 1990er Jahren entwickelten einige indigene Geistliche aus Queensland der katholischen, anglikanischen, lutherischen Kirche und der Uniting Church etwas, was sie Rainbow Spirit Theology nannten. Darin arbeiten sie mit Setzungen:

"Wir glauben, dass Gott durch die Heilige Schrift gesprochen hat und immer noch spricht. Dieser Gott der Heiligen Schrift ist den Aborigine-Völkern bekannt als der Schöpferahn, der zu uns durch das Land spricht. Das Land ist wie die Heilige Schrift – heilige Geschichten und Zeichen sind in die Landschaft eingeschrieben und stehen denen zur Verfügung, die sie lesen können." (9)

Die Schöpferahnen werden nicht differenziert betrachtet, sondern mit einem einzigen Gott gleichgesetzt trotz der bekannten Verbindungen jedes einzelnen indigenen Menschen mit einem spezifischen Schöpferahn. Das Wesentliche dieser Theologie ist der Versuch, eine Verbindung zwischen den indigenen Kulturen und christlichen Vorstellungen herzustellen:

"Mit dieser Theologie streben wir an, das tiefgründige Symbol [des Rainbow Spirit] zu ersetzen und es mit neuer Bedeutung im Geist des Evangeliums zu füllen." (10)

Die weiter oben angesprochene Differenz zwischen dem indigenen Sorgen für das Land und dem christlichen Herrschen über das Land wird durch eine Übersetzungsänderung der entsprechenden Stelle aus dem Hebräischen aufgelöst. (11)

Die Reaktion der indigenen Australier auf die christlichen Religionen waren und sind sehr verschieden. Sie reichen von "Wir versuchten, wie die Weißen zu werden, aber wir merkten, dass wir es nicht konnten. Unser Gesetz ist zu stark." (12) bis zu "Wir glauben an das überlieferte Gesetz, und wir wollen es behalten. Aber wir glauben auch an die Bibel. Deshalb haben wir die guten Regeln von beiden ausgewählt und sie zusammengefügt." (13)

Das Leben nach beiden Überzeugungen wird als "Two Ways" bezeichnet und wird wie folgt in den Bildern sichtbar.

Zeitgenössische indigene Kunst:
Darstellungen des "Two Ways" – Fallstudien

Shirley Purdie lebt in Warmun, einem Ort im Kimberley im Nordwesten Australiens mit starkem katholischem Einfluss, wenngleich dort nach wie vor indigene Zeremonien praktiziert werden. Viele der Ältesten sind gleichzeitig Experten des indigenen Gesetzes und Christen. Shirley Purdies Bild "Leidensstationen Christi" folgt nicht der üblichen Sequenz der 14 Stationen des Kreuzwegs, sondern beginnt oben in der Mitte des Bildes mit der Geburt Jesu, setzen sich gegen den Uhrzeigersinn fort und enden unterhalb der ersten Station mit einer 15. Szene.

größeres Bild im neuen Fenster.  Abb. 1: Shirley Purdie (*ca. 1948), Leidensstationen Christi, 2007, Erdpigment auf Leinwand, 213 x 151 cm; abgedruckt in: Holleuffer, Henriette von und Wimmer, Adi (Hg.): Australien. Realität - Klischee - Vision. Australia. Reality - Stereotype - Vision, Schriftenreihe im Auftrag der Gesellschaft für Australienstudien, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2012, S. 52Die in der westlichen Kunst gängige Darstellung der einzelnen Leidensstationen als getrennte und freistehende Abbildungen hat ganz offensichtlich die Komposition des Bildes beeinflusst. Indigene Kunst, die von heiligen Stätten handelt, benutzt oft Linien, die diese Stätten verbinden, um die Reisen der Schöpferahnen anzuzeigen. In den "Leidensstationen Christi“ verzichtet die Künstlerin gänzlich darauf, und die Stationen des Kreuzwegs heben sich markant vom monochromen Hintergrund ab. Die Figuren des Jesus‘, des Kreuzes etc. sind in abgeschlossene Formen eingefügt, die die weichen Hügel des nahegelegenen Kimberley repräsentieren. Auf diese Art ist das Land im Bild ebenso präsent wie die Leidensgeschichte Jesu, und zwar ganz abgesehen von dem Material der Erdpigmente, die ja auch Teil des Landes sind.

Die Präsenz des Landes wird zusätzlich erhöht dadurch, dass Shirley Purdie zwei Hügel in das Bild einfügt, wie sie ähnlich in fast all ihren Bildern zu finden sind und zusammen mit den Kimberley-Formen die indigene Seite des "Two Ways" darstellen. Die Künstlerin macht durch die graue und schwarze Farbgebung eine subtile Unterscheidung zwischen beiden Arten von Hügeln und stellt damit ein Gleichgewicht zwischen der christlichen Geschichte und der indigenen Bedeutung des Landes her. 

größeres Bild im neuen Fenster.  Abb. 2: Hector Jandany (ca. 1924-2006), Der tote Christus im Baum, o.J., Erdpigment auf Leinwand, 92 x 60 cm; abgedruckt in: Crumlin, R. und Knight A. (Hg.), Aboriginal Art and Spirituality, Collins Dove, Melbourne 1991, S. 39Eine andere Ausdrucksform der Verbindung von christlicher und indigener Religion findet sich im Bild von Hector Jandany, der ebenfalls in Warmun lebte und seit 1979 malte, dem Jahr der Gründung der Bough Shed School durch zwei katholische Nonnen auf Veranlassung der Gemeinde. Hector Jandany lebte in und mit beiden Religionen. Sein Bild zeigt den Leichnam von Jesus, der auf einer Plattform in einem Baum liegt. Der Künstler bezieht sich damit auf frühere Beerdigungsrituale in dieser Gegend. Im Bild befindet sich keine christliche Ikonographie. Hector Jandany ist bekannt für seine zurückhaltende Farbgebung in zumeist dunklen Tönen. Dass die Hälfte des Bildes mit hellem Ocker ausgefüllt ist, lässt die Plattform mit der Figur des schwarzen, also indigenen Christus im Baum hervorheben. Das Bild trägt den Titel "Der tote Christus im Baum". Hector Jandany malte dieses Bild für den Ostergottesdienst, für den es in der Kirche von Warmun eine Reihe von Jahren benutzt wurde.

größeres Bild im neuen Fenster.  Abb 4.: Matthew Gill Tjupurrula (ca. 1960-2006), Mutterschaft, 1982, Acryl auf Leinwand, 240 x 119 cm; abgedruckt in: Crumlin, R. und Knight A. (Hg.), Aboriginal Art and Spirituality, Collins Dove, Melbourne 1991, S. 58Interessant ist ein Bild von Matthew Gill Tjupurrula, der im Alter von knapp über 20 Jahren in Wirrimanu (Balgo Hills) zu malen begann und viele Werke für die Kirche und die örtliche Schule erarbeitete. Zu seinen frühen Arbeiten gehört "Mutterschaft" von 1982, die für die Kirche bestimmt war und auch heute noch dort hängt. (14) Der Künstler betont ganz im Gegensatz zum reinen Ideal der Jungfrau Maria das Physische der Mutterschaft durch die Abbildung der Gebärmutter. Die Schlangen im oberen Bildteil sind nicht etwa ein Symbol für die Verführung in der christlichen Vorstellung und damit für das Böse, sondern bezeichnen ein für Matthew Gill Tjupurrula heiliges indigenes Zeichen. Der Künstler hat wie Hector Jandany ganz auf eine christliche Symbolik in seinem Bild verzichtet und es dennoch als solches verstanden.

Ein weiteres Bild, das ohne jegliche christliche Symbolik auskommt, ist von Clarise Nampijinpa Poulson. Es trägt den Titel "Wapirra (Trinity)" und wurde 2002 gemalt. Die Künstlerin, 1957 in Yuendumu geboren, malt seit 1988 und ist eine Sprecherin der größeres Bild im neuen Fenster.  Abb. 5: Clarise Nampijinpa Poulson (*1957), Wapirra (Dreieinigkeit), 2002, Acryl auf Leinwand, 183 x 80 cm; abgedruckt in: Holleuffer, Henriette von und Wimmer, Adi (Hg.): Australien. Realität - Klischee - Vision. Australia. Reality - Stereotype - Vision, Schriftenreihe im Auftrag der Gesellschaft für Australienstudien, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2012, S. 58Warlpiri. Auch sie lebt beide Religionen, ihre indigene und die der Babtisten, die 1947 eine Missionsstation in Yuendumu errichteten.

Ihr Bild, das in einer äußerst präzisen Maltechnik mit in der Größe variierenden Punkten und in leuchtenden Farben gemalt ist, enthält von oben nach unten gelesen, die folgende Wapirra (Dreieinigkeit)-Jukurrpa. Wie in der Ikonographie von Yuendumu üblich, werden Menschen durch U-Formen repräsentiert. In dem braunen, fast geschlossenen Bogen sind Menschen dargestellt, die außerhalb der göttlichen Gemeinschaft leben; es sind Menschen, die noch nicht vom Heiligen Geist erfüllt sind. In der linken Mitte des Bildes befinden sich drei weitere dieser U-Formen; diese Menschen haben begonnen, sich dem Glauben zuzuwenden. In dem fast geschlossenen Kreis unten im Bild sind die gleichen Menschen wie oben dargestellt, nun vom Geist Gottes erfüllt und in alle Ewigkeit in Wapirra, der Dreieinigkeit lebend. Die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist im rechten mittleren Teil des Bildes wird in Form dreier brauner Halbkreise dargestellt. (15)

größeres Bild im neuen Fenster.  Abb. 6: Clifford Possum Tjapaltjarri (ca. 1932-2002), Karfreitag, 1994, Acryl auf Leinwand, 116 x 154 cm; abgedruckt in: Johnson, Vivien, Clifford Possum, Art Gallery of South Australia, Adelaide 2003, S. 189 Clifford Possum Tjapaltjarri malte meines Wissens nur dieses eine Bild mit christlicher Thematik. Der Künstler, der in Napperby initiiert wurde, aber auch die christliche Religion in Ntaria (Hermannsburg) kennenlernte, ließ diesen Glauben wieder aufleben, als er 1994 einer risikoreichen Augenoperation entgegensah; das andere Auge war seit seiner Jugend blind. Er fügte in sein Bild „Karfreitag“, das er in den Ostertagen 1994 malte, die eindeutige christliche Ikonographie der drei Kreuze ein, die im Bild wie auf einem Berg stehend angeordnet sind. Eine Dornenkrone, am unteren Ende zwischen den beiden linken Kreuzen gemalt, und drei überdimensional große Nägel vervollständigen die christliche Symbolik. Die drei Fußspuren, die auf das Kreuz von Jesus hinführen, sind oft in den Arbeiten von Clifford Possum Tjapaltjarri zu finden.

In der für den Künstler typischen Malweise ist der Hintergrund aus gepunkteten unregelmäßigen Feldern gemalt, die schon in seinen frühesten Werken in den 1970er Jahren auftauchen und an Wolken und Schatten erinnern. Tatsächlich repräsentieren die weiß und vor allem orange gepunktenen schmalen, in der Diagonalen angeordneten Felder, die Milchstraße. Der Blitz steht für den Zorn Gottes über den Tod seines Sohnes.

Wichtig für die vorliegende Betrachtung sind die sieben konzentrischen Kreise, indigene Symbol für die Seven Sisters, die Plejaden, die in der gleichen Farbe wie die Kreuze und die Dornenkrone gemalt sind. Das gesamte Bild ist eine durch die grauen und die rote Farbe brodelnd aufgeladene Himmelsszene, ein Rot, das eher nicht an die australische Landschaft, sondern an das christliche Blut erinnert. So stehen in diesem Werk indigene und christliche Symbolik gleichberechtigt nebeneinander.

größeres Bild im neuen Fenster.  Abb. 7: Lin Onus (1948-1996), Und am achten Tag…, 1992, Acryl auf Leinwand, 182 x 245 cm; abgedruckt in: Neale, Margo (Hg.), Urban Dingo – The Art and Life of Lin Onus 1948-1996, Craftsman House, Brisbane 2000, S. 90Einen ähnlich dramatischen Himmel malte Lin Onus 1992 in seinem Bild "Und am achten Tag…", wenn auch in ganz anderer Weise. Der Künstler hat als Landschaftsmaler begonnen; später hat er auch Installationen gemacht. Er lebte in Melbourne, gehörte väterlicherseits zu den Yorta Yorta, seine Mutter stammte aus Glasgow; sein Vater war seit den 1930er Jahren einer der indigenen politischen Aktivisten in Südaustralien. Als Repräsentant des Aboriginal Arts Board besuchte Lin Onus 1986 Maningrida und lernte Jack Wunuwun und andere große Künstler des Nordens kennen. Er wurde in Oenpelli initiiert – was er als eines der bedeutendsten Ereignisse in seinem Leben bezeichnete (16).

Die intensive Verbindung zu Jack Wunuwun und John Bulun Bulun wandelte seiner Landschaftsmalerei entscheidend, und zwar sowohl im Hinblick auf seine Maltechnik also auch auf den Inhalt. Denn es waren jetzt nicht mehr nur einfach Landschaften, sondern sie transportieren eine Absicht.

In dieses Bild von 1992 fügt Lin Onus konzentrische Kreise in eine realistische Ansicht einer für manche australischen Gegenden typisch schwach bewaldeten Buschlandschaft ein. Damit stellt der Künstler einen eindeutigen Bezug zu einem Land in indigener Auffassung her, nämlich Land als identitätsstiftend, als kulturelles Archiv, Land, das nicht ge- oder zerstört werden darf. Über dem indigenen Land fliegen vor dem bedrohlichen Himmel zwei Engel, die in die britische Flagge gekleidet sind. Es sind nicht die Engel der Erlösung, sondern die des Todes. Die Farben der Flagge stehen bei Lin Onus für die Farben des Todes, die er als solche auch in seiner Installation „Maralinga“ von 1990 zu den britischen Atombombentests aufnimmt. In ihren Händen tragen die Engel die Symbole für die britische Invasion, eine Pistole als Zeichen für den Völkermord, ein Schaf mit Stacheldraht als Ausdruck für zerstörtes Land, eine Bibel als Zeichen für kulturelle Zerstörung und eine Plastikflasche, die Lin Onus als das überflüssigste Mitbringsel der Weißen überhaupt bezeichnete. (17)
Der Künstler nutzt den Bildtitel „Und am achten Tag…“, der sofort Assoziationen an eine zerstörerische Fortsetzung der Schöpfungsgeschichte erweckt, und christliche Symbole – die Engel, die Bibel – für seine Kritik an den Invasoren und ihrem Umgang mit Land und Menschen.

größeres Bild im neuen Fenster.  Abb. 8: Julie Dowling (*1969), A Welcome of Tears, 1999, Acryl, roter und weißer Ocker, Silber auf Leinwand, 100 x 120 cm; abgedruckt in: Flinders University City Gallery (Hg.), Holy, Holy, Holy, Flinders University City Gallery, Adelaide 2004, S. 60Beeinflusst von den Zusammenstößen, die ihre Familie mit christlichen Institutionen hatte, beschäftigt sich die große Portraitistin Julie Dowling oft mit der brutalen Behandlung indigener Menschen in manchen Missionen. Im Bild „A Welcome of Tears“ von 1999 zeigt sie eine von ihrer Großmutter überlieferte Geschichte über den unmenschlichen Umgang mit indigenen Mädchen in der St. Josephs’s Mission in Subiaco, einem Vorort von Perth. Im Bild portraitiert die Künstlerin ihre Großmutter und Großtante als Kinder zusammen mit anderen indigenen Mädchen, die in das Waisenhaus dieser Mission gesteckt worden waren. Sie halten eine Beerdigungszeremonie ab für eine ihnen nahestehende Freundin, die an den Folgen einer Lungenentzündung, verursacht durch Hunger, harte Arbeit und Entkräftung, starb. (18)

An diesem Bild ist interessant, dass Julie Dowling für das verstorbene Mädchen die gleiche Haltung wie im Bild von Hector Jandaloo „Der tote Christus im Baum“ wählt, eine Haltung, die sich auf Beerdigungszeremonien im Norden Australiens bezieht. Anders als Lin Onus wählt die Künstlerin für ihre Kritik an der Mission also keine christliche Ikonographie, sondern setzt ihr die indigene entgegen.

größeres Bild im neuen Fenster.  Abb. 9: Julie Dowling (*1969), Minderheitenrechte I, II, III, 2003, Acryl, Blut, roter Ocker und Kunststoff auf Leinwand, Tryptichon, jeweils 80 x 50 cm; abgedruckt in: Flinders University City Gallery (Hg.), Holy, Holy, Holy, Flinders University City Gallery, Adelaide 2004, S. 75

Im Triptychon „Minderheitenrechte I, II, III“ von 2003 portraitiert Julie Dowling drei Frauen aus drei Generationen ihrer Familie, die mit Vergehen der Kirchen konfrontiert waren. Neben den vier Personen und der indigenen Flagge ist in den Bildern eine Reihe von zurückhaltend gemalten aber bedeutungsvollen Symbolen enthalten. In den beiden rechten Bildern trennt die gepunktete Horizontlinie das indigene Land, gekennzeichnet durch konzentrische Kreise, vom Himmel. Im Himmel des rechten Bildes sind zahlreiche Kruzifixe gemalt. Im Himmel des mittleren Bildes ist der Umriss der Sonne aus der indigenen Flagge in feinen Strichen nachgezeichnet. Im Himmel des linken Bildes innerhalb eines Kreises um den Kopf der Frau herum sind die Symbole für das Land zu finden sowie Hände, die nach indigenen Symbolen für Wasser greifen. Unter den Wassersymbolen sind mehrere Kruzifixe abgebildet. Die Künstlerin arbeitet in diesen Bildern also sowohl mit indigener als auch christlicher Symbolik.

Julie Dowling gab die folgenden biografischen und historischen Hintergrundinformationen:

"Ich wollte auch die Spannungen sichtbar machen, die zwischen indigenen und nicht-indigenen Kulturen herrschten wegen des Gebrauchs von Religion als Werkzeug der Kolonisierung. Ebenso wollte ich die Geschichte der gewaltsamen Kindeswegnahme und das Tauziehen der Religionen um zu bekehrende indigene Seelen in Westaustralien wiedergeben. Meine Urgroßmutter, Mary Latham, wurde ihrer Mutter Melbin, die aus dem Busch ‘gerettet’ und im Namen der Church of England getauft wurde, weggenommen. Melbins Tochter Mary Oliver wurde ihr weggenommen und anglikanisch getauft. Mary Olivers Tochter, May Latham, wurde ihrer Mutter ebenfals weggenommen und danach katholisch getauft. All dies geschah innerhalb von gerade einmal 40 Jahren." (19)

größeres Bild im neuen Fenster. Abb. 11: Vernon Ak Kee (*1967), likeitwasreligion, 2007, Vinyl (montiert im Campbelltown Arts Centre, Sydney); abgedruckt in: Institute of Modern Art (Hg.). Vernon Ah Kee: Born In This Skin, Brisbane 2009, S. 51 Schlucht in den Bungle BunglesVernon Ah Kee ist vor allem bekannt für seine gezeichneten Portraits aus dem Familien- und Freundeskreis, für Videoinstallationen und für Werke, die mit Sprache und Typographie arbeiten. Das Kerning, d. h. die Unterschneidung der Buchstabenzwischenräume, zwingt den Betrachter, sich sehr auf das Lesen zu konzentrieren, was eine gewisse Atmosphäre des verzögerten, aber dann umso betroffeneren Verständnisses erzeugt. Denn der Künstler kritisiert in seinen Werken oft in drastischer Weise die Ausgrenzung und den Rassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung und untergräbt das übliche Verständnis von Text und Sprache.

In der Arbeit "likeitwasreligion" manipuliert der Künstler Sprache in sehr ironischer Weise mit vielfältigen Konnotationen, die andeuten, dass er keinem christlichen Glauben anhängt. Der Schriftzug lautet: "I used to go to church like it was religion." Den – englischsprachigen – Betrachtern wird sofort die alltägliche und sardonisch-übertriebene Redewendung "do something religiously" einfallen, also etwas regelmäßig und mit Eifer tun, um dann beim zweiten Hinsehen am Wort "church" hängenzubleiben, das mit pflichtgetreu, ruhevoll und moralisch konnotiert. Die Betrachter werden stutzen, weil sie bemerken, dass aus diesem Zusammenhang die Redewendung tatsächlich entstand – und es entstehen Zweifel, ob der Künstler dies ernsthaft meinte.

Auf diese Art nachdenklich gemacht, fällt beim zweiten Lesen das Präteritum "used to" auf, und die Betrachter sind mit einer neuen Vorstellung konfrontiert, dass nämlich der Künstler regelmäßig und ohne großartig darüber nachzudenken den Gottesdienst besuchte, dies jedoch allmählich seltener tat, bis er eines Tages zurückblickte, um über sein früheres Verhalten spöttisch zu lächeln. Andererseits könnte "used to" absichtlich doppeldeutig gemeint sein in dem Sinn, dass der Künstler dem Gottesdienst früher ohne nachzudenken beiwohnte, jetzt aber aus voller Überzeugung hingeht. Auf diese weise wird der Betrachter, wie beim Lesen eines Haiku-Gedichts, auf ein ganzes Spektrum von Gedanken gebracht.


Anmerkungen

(1) Zit. nach: May, John D'Arcy, Transcendence and Violence: The Encounter of Buddhist, Christian, and Primal Traditions, Continuum, New York, London 2003, S. 27

(2) Harris, John, One Blood: 200 years of Aboriginal encounter with Christianity: A Story of Hope, Albatross Books, Sutherland NSW 1994, S. 404

(3) Yengoyan, Aram A., “Religion, Morality, and Prophetic Traditions: Conversion among the Pitjantjatjara of Central Australia”, in: Robert W. Hefner (Hg.), Conversion to Christianity: Historical and Anthropological Perspectives on a Great Transformation, Univ. of California Press, Berkeley 1993, S. 234

(4) Ranger, Terence, “Christianity and the First Peoples: Some Second Thoughts”, in: Peggy Brock (Hg.), Indigenous Peoples and Religious Change, Brill, Leiden Boston 2005, S. 19

(5) Ausführliche Beschreibungen sind zu finden in:
Austin-Broos, Diane J., “The Meaning of Pepe: God's Law and the Western Arrernte”, in: Journal of Religious History 27.3, 2003, S. 311-28
Brock, Peggy (Hg.), Indigenous Peoples and Religious Change, Brill, Leiden Boston 2005
Dewar, Mickey, “You in Your Small Corner: The Love Song of Alfred J. Dyer: Early Days of Church Mission Society Missions to the Aborigines of Arnhem Land”, in: Humanities Research XII.1, 2005, S. 27-40
Lake, Meredith, ‘Such Spiritual Acres’ – Protestantism, the Land and the Colonisation of Australia, 1788-1850, University of Sydney, Ph D Thesis, 2008
Loos, Noel, White Christ Black Cross: The Emergence of a Black Church, Aboriginal Studies Press, Canberra, 2007
McDonald, Heather, Blood, Bones and Sprit: Aboriginal Christianity in an East Kimberley Town, Melbourne University Press, Melbourne 2001
Morphy, Howard, “Mutual Conversion? The Methodist Church and the Yolngu, with Particular Reference to Yirrkala”, in: Humanities Research XII.1, 2005, S. 41-53
Pattel-Gray, Anne, The Great White Flood: Racism in Australia. Critically Appraised from an Aboriginal Historico-Theological Viewpoint, Scholars Press, Atlanta 1998
Schwarz, Carolyn und Dussart, Françoise, “Christianity in Aboriginal Australia Revisited”, in: The Australian Journal of Anthropology 21. 1, 2010, S. 1-13

(6) Bei manchen indigenen Gruppen hatten die Missionare niemals Erfolg. So gründeten die Lutheraner zwischen 1887 und den 1980er Jahren mehrmals Missionsstationen für die Kuku-Ylanji im Norden Queenslands, ohne dass es einen nennenswerten Einfluss auf deren Glauben gegeben hätte. Vgl. Anderson, Chris, "Was god ever a ‘boss’ at Wujal Wujal? Lutherans and Kuku-Yalanji: A socio-historical analysis", in: The Australian Journal of Anthropology 21.1, 2010, S. 33-50

(7) Winter, Joan G. (Hg.), Native Title Business: Contemporary Indigenous Art. A National Travelling Exhibition, Keearia Press, Southport Qld. 2002, S. 51

(8) Harris, John, One Blood: 200 years of Aboriginal encounter with Christianity: A Story of Hope, Albatross Books, Sutherland NSW 1994, S. 399

(9) The Rainbow Spirit Elders, Rainbow Spirit Theology: Towards an Australian Aboriginal Theology, Harper Collins, East Melbourne Vic. [1997] 2000, S. 20

(10) ebd. S. 14

(11) ebd. S. 75

(12) Flinders University City Gallery (Hg.), Holy, Holy, Holy, Flinders University City Gallery, Adelaide 2004, S. 12

(13) Berndt, Ronald M., An Adjustment Movement in Arnhem Land, Northern Territory of Australia, Mouton, Paris 1962, S. 60

(14) Persönliche Kommunikation mit Annette Cock von Warlayirti Artists, Wirrimanu (Balgo Hills).

(15) Persönliche Kommunikation mit Cecilia Alfonso von der Warlukurlangu Artists Aboriginal Corporation, Yuendumu.

(16) Leslie, Donna, Aboriginal Art – Creativity and Assimilation, Macmillan, Melbourne 2008, S. 248

(17) Flinders University City Gallery (Hg.), Holy, Holy, Holy, Flinders University City Gallery, Adelaide 2004, S. 62

(18) ebd.

(19) ebd. S. 74