Jukurrpa

Auszug aus dem Kapitel "Das Verborgene im Sichtbaren" aus dem Katalog "Das Verborgene im Sichtbaren. The Unseen in Scene" (1):

Auch wenn die Bilder visuell und konzeptionell aus sich heraus wirken und den Betrachter in ihren Bann zu ziehen vermögen, so ist zum besseren Verständnis ein kurzer Einblick in die Facetten der Jukurrpa (2) hilfreich; Facetten, die allesamt in Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zueinander stehen und ein äußerst komplexes System von Vorstellungen über Weltbild und Religion bilden.

größeres Bild im neuen Fenster.  Echidna Schlucht in den Bungle BunglesJukurrpa manifestiert sich zunächst in den Ahnen, die vor unendlicher Zeit das Land durchwanderten, die Landschaft formten, die Menschen und ihre Fähigkeiten, Tiere und Pflanzen schufen und schließlich in das Land zurücksanken, Teil des Landes wurden und noch heute gegenwärtig sind. Geographische Merkmale markieren Episoden von den Wanderungen der Ahnen. Oft sind diese Merkmale heilige Stätten, die es zu schützen gilt.

Auch der Himmel ist von Ahnen bevölkert, die auf die Erde kamen, um am Schöpfungswerk teilzunehmen, und anschließend wieder in den Himmel zurückkehrten.

Die Reisen der Ahnen, die zusammen mit ihren Handlungen in Liedzyklen besungen und in Geschichten erzählt werden, verbinden weit entfernte Landteile miteinander und damit verschiedene Völker der Aborigines. Anders gesagt: Die verschiedenen Völker mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Sprachen besitzen jeweils Teile eines größeren Liedzyklus' oder einer langen Geschichte und finden somit in der Jukurrpa ihre Gemeinsamkeit.

größeres Bild im neuen Fenster. Erdrelief, abgedruckt in Godelier, Maurice (Hg.): Wati. Les hommes de loi. The Law Men. Collection d'Arnaud Serval, Woo Mang, Paris 2002, Ausst. Kat., S. 16In religiösen Zeremonien werden die Handlungen und Wanderungen der Ahnen durch Gesänge, Tänze und Bodeninstallationen oder Sandbilder belebt. Die Geschichten und Liedzyklen enthalten all das Wissen über Tiere, Pflanzen und Nahrung, über Medizin und über die Moral, die das Zusammenleben und das Überleben von Menschen ermöglicht. Die Geschichten und Liedzyklen sind nichts Mystisches, sondern dienten sowohl der Wissensvermittlung als auch der Geschichtsschreibung. Bis heute besitzen sie eine sehr praktische Bedeutung z.B. beim Auffinden von Wasser oder bei der Orientierung in der Wüste; insofern sind sie topographische Beschreibungen des Landes.

Jukurrpa bedeutet aber weitaus mehr. In den Überzeugungen der Aborigines gibt es keine Spaltung zwischen Spiritualität und dem Materiellen, zwischen natürlich und übernatürlich. Jukurrpa meint sowohl die Schöpfung als auch die sozialen Regeln des Zusammenlebens. Sie verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; harte zeitliche Trennungen existieren nicht. Der Mensch ist Teil der Jukurrpa wie die Jukurrpa Teil des Menschen ist, seine geistige, seelische und materielle Identität. Jukurrpa ist die Erkenntnis und das Sein. Jukurrpa ist aber auch das Gesetz, das von den Ahnen gegeben wurde. So wird jedes natürliche und kulturelle Phänomen in Beziehung zueinander gesetzt.

Jukurrpa, das darin enthaltene Weltbild, das von den Ahnen gegebene Gesetz, die Geschichten, die Auffassungen über das Land - all dies ist nichts Statisches. Das Neue der sich ändernden Umwelt, Vorfälle der Verfolgung der Aborigines in der neueren Geschichte werden aufgenommen und zum Bestandteil der Jukurrpa. Denn alles Neue ist in Wahrheit so alt wie die Welt selbst, weil es im Plan der Jukurrpa bereits angelegt war.

Jukurrpa als Inspirationsquelle

Jede/r Aborigine besitzt eine oder mehrere Jukurrpas im Sinne von Geschichten. Sie werden von den Eltern oder Großeltern vererbt und stellen die spirituelle Verbindung zu einem bestimmten Teil des Landes sowie oft zu einer Pflanze oder einem Tier dar. Land, Jukurrpa, Mensch und Geschichte, also auch die im Gemälde erzählte Geschichte, sind miteinander verwoben: Jukurrpa bezieht sich auf das Land, das zur Person gehört, und auf die Geschichte, die zum Land gehört.

Jukurrpa ist wahr; sie entspricht ebenso einer vorfindbaren Realität wie einer hinter den Dingen stehenden Spiritualität. Beides vereint, macht ihre Stärke aus, die in den Bildern sichtbar wird. Es sind kraftvolle Bilder, die unabhängig davon, ob sie in einer eher lyrischen Malweise und zurückhaltenden Farben oder in präziser, die Symbolik vom Hintergrund klar abgrenzender Punkttechnik gearbeitet sind, immer eine große Präsenz und Stärke vermitteln.

Die Künstlerinnen und Künstler sind von ihrer Jukurrpa inspiriert. So handelt die Kunst von den wesentlichen Dingen, die das Leben sowohl in seinen materiellen wie spirituellen Ausformungen bestimmen. Jukurrpa ist das, was das Sichtbare mit dem Unsichtbaren verbindet; es ist das Innere, das nach außen getragen wird und doch verborgen bleibt.

Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen - in den Geschichten, in den Überlagerungen der Bildkomposition, in den Verschlüsselungen der Ikonographie."


Anmerkungen

(1) Aboriginal Art Galerie Bähr (Hg.): Das Verborgene im Sichtbaren. The Unseen in Scene, 2. Aufl., Speyer 2002, Ausst. Kat., ISBN 3980707210

(2) Jukurrpa ist die Bezeichnung in der Sprache der Warlpiri Zentralaustaliens; die Gija aus den Kimberleys nennen es Ngarrangkarni, die Ngarinjin - ebenfalls aus den Kimberleys - Lalai und die Arrernte Altyerre, Aleringa, Alcheringa oder Aldjerinya.